22. April 2016 | Politik | Wirtschaft

Die NATO der Wirtschaft: CETA, TTIP und TISA

Die Gierilla Weniger wird für die Meisten zur Guerilla

von Wolfgang Berger (www.business-reframing.de)

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Freihandel und offene Grenzen für den Warenaustausch sind segensreiche Einrichtungen. Der Klassiker der Nationalökonomie David Ricardo (1771 – 1823) hat die Vorteile an einem einfachen Beispiel aufgezeigt: Die Portugiesen produzieren guten Wein und die Engländer gute Wolle. Ohne Handel könnten die Engländer keinen Wein trinken und die Portugiesen müssten im Winter frieren. Freier Handel erlaubt es jedem Volk das zu produzieren, was es gut kann und gegen das zu tauschen, was andere besser können.

Abkommen, die heute endlich alle Hindernisse für freien Handel aus dem Weg räumen, sollten deshalb von allen begrüßt werden. Erstaunlich ist aber nun, dass in jahrelangen geheimen Verhandlungen vier Abkommen ausgehandelt worden sind und noch vorbereitet werden, deren Text (in einem Fall)  sogar fünf Jahre lang nach Inkrafttreten des Abkommens nicht bekannt gegeben werden darf. Selbst Parlamentarier erfahren nur bruchstückhaft, worum es im Grunde geht. Diese Verträge werden uns in einer raffinierten Reihenfolge präsentiert:

  1. Das erste ist das Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) zwischen Kanada und der Europäischen Union (EU). Zuerst ist CETA zu Ende verhandelt worden. Im September 2014 haben der damalige EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso und der damalige kanadische Premierminister Stephen Harper das unterschrieben. Es ist noch nicht in Kraft, weil die Parlamente auf beiden Seiten des Atlantiks noch nicht zugestimmt haben. Der 1.634 Seiten starke Vertrag ist den 28 EU-Staaten zur Ratifizierung zugeleitet worden. Kanada hat in Europa einen guten Ruf.
  2. Im Februar 2016 haben zwölf Anrainerstaaten des Pazifiks in Auckland, Neuseeland, das Abkommen für eine Trans-Pacific Partnership (TPP) unterzeichnet. Sieben Jahre ist darüber verhandelt worden und die vereinbarten Regelungen sind sehr ähnlich wie die von CETA. Es fasst die beiden dynamischsten und zukunftsträchtigsten Regionen der Welt zusammen und verlagert den Mittelpunkt der modernen Welt vom Atlantik in den Pazifik.
  3. Als nächstes wird die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) zwischen den USA and der EU nachgeschoben, über die seit 2013 verhandelt und neuerdings auch gestritten wird. Es gibt eigentlich keinen Grund, den USA nicht auch das zuzugestehen, was mit Kanada schon vereinbart ist und Pazifikanrainer mit ihnen auch vereinbart haben. CETA ist ohnehin die „Blaupause“ für die noch gewichtigere Vereinbarung zwischen den USA und der EU. Viele neue Regelungen sollen einfach übernommen werden.
  4. Wenn das alles in trockenen Tüchern ist, folgt das Trade in Services Agreement (TISA), das in Geheimverhandlungen seit 2012 zwischen den USA und 50 Staaten (einschließlich der EU) vorbereitet wird. Es soll Dienstleistungen wie das Gesundheitswesen, die Altersversorgung, den Verkehr, Technische Überwachung, Wirtschaftsprüfung, juristische Dienstleistungen, Finanzen, Bildung und elektronische Transaktionen privatisieren und liberalisieren. Die Verhandlungspapiere sollen frühestens fünf Jahre nach Abschluss des Vertrags veröffentlicht werden. Die Geheimhaltung endet fünf Jahre nach Inkrafttreten oder – falls das Abkommen nicht in Kraft treten sollte – fünf Jahre nach dem Ende der Verhandlungen.

Der Unfreihandel

Alle vier Abkommen werden als „Freihandelsabkommen“ bezeichnet. Der Begriff ist geschickt gewählt. Wer etwas gegen Freihandel hat und Zölle wieder einführen möchte, ist ein Protektionist, der uns in die vorindustrielle Zeit zurück katapultieren will. Dabei gibt es zwischen Nordamerika und Europa bereits so gut wie keine Zölle mehr. Die Abkommen bestätigen, dass das so bleibt. Damit etwas so bleibt wie es ist, brauchen Experten aber nicht jahrelang Geheimverhandlungen führen.

Es geht um etwas ganz anderes: Für den Freihandel gibt es die in Genf ansässige zentrale UNO-Organisation für Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, die Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organisation). Die WTO und ihre Vorgängerorganisationen haben schon viele Freihandelskonferenzen organisiert, um die Segnungen eines wirklich freien Handels auf der Welt zu verbreiten. Die aktuell neunte dieser Runden – die so genannte Doha-Runde – begann 2001. Die Verhandlungen kommen kaum vom Fleck, weil die Industrieländer sie blockieren. Die WTO wird inzwischen von Schwellenländern dominiert, die das Diktat des Westens nicht mehr akzeptieren.

Haben Sie schon einmal überlegt, warum Sie an der Geflügeltheke im Supermarkt nur Brust und Schenkel bekommen? Die weniger wertvollen Teile der geschlachteten Tiere werden nach Afrika exportiert. Afrikanische Landwirte haben vorher ihre Landsleute gut und gesund ernährt. Jetzt werden sie in den Ruin getrieben. Um zu überleben bauen sie Futtermittel für den Export an. Die USA und die EU bestehen darauf, weiter subventionierte Agrarprodukte nach Afrika zu exportieren. Vom Rest der Welt verlangen sie, dass wir unsere Autos, Maschinen und Chemikalien zollfrei dorthin liefern können.

Der Widerstand gegen den postkolonialen Kampf um einseitige Vorteile „des Westens“ hat Brasilien und Argentinien, Indien und China, Nigeria und Südafrika Auftrieb gegeben. Bei den Verhandlungen und Abstimmungen in Genf haben sich die meisten Entwicklungsländer ihnen angeschlossen. Die westlichen Industrieländer können deshalb hier jetzt nicht mehr frei schalten und walten, wie sie es bis vor kurzem noch gewohnt waren. Deshalb haben sie sich auf „forum shifting“ verlegt – einen Szenenwechsel. In der WTO können sie ihre Interessen nicht mehr durchsetzen. Also suchen sie sich einen neuen Rahmen, in dem es vielleicht noch funktioniert.

Sobald diese „Freihandelsabkommen“ verabschiedet sind, degradieren sie die World Trade Organisation WTO in Genf zu einem Small Talk Club von Frühstücksdirektoren. Dort ging es noch um Handel. Bei den Abkommen, die jetzt auf uns zukommen, geht es um einen grundlegende Änderung der Machtverhältnisse: One man one vote (eine Stimme für jeden Bürger) soll ersetzt werden durch One dollar one vote (eine Stimme für jeden Dollar).

Ende März 2016 erklärte der Generaldirektor Handel der EU-Kommission, Jean-Luc Demarty, dass die Parlamente der EU-Mitgliedstaaten gar nicht über das Abkommen mit Kanada entscheiden sollten. Handelspolitik falle in die Zuständigkeit der Kommission. Dieser Coup  der Entmachtung der Mitgliedsstaaten und ihrer Parlamente soll erst nach der Abstimmung der Briten über den EU-Verbleib bekannt geben werden. Selbst unsere Parlamentarier dürfen die in Juristenenglisch verfassten Texte in einem Lesesaal nur kurz einsehen, aber mit niemandem darüber sprechen.

Militärische Projekte unterliegen oft strengster Geheimhaltung, weil sie angeblich der nationalen Sicherheit dienen. Im Grunde aber darf niemand etwas davon erfahren, weil versucht wird, einen militärischen Vorteil gegenüber einem Gegner zu erlangen. Wenn Handelsverträge geheim gehalten werden, spricht einiges dafür, dass auch mit ihrer Hilfe insgeheim ein wirtschaftlicher Vorteil gegenüber einem Gegner erlangt werden soll. Es geht gar nicht um Freihandel, es geht um einen Umsturz und die Machtergreifung der Finanzoligarchie in der westlichen Welt.

Regulatorische Konvergenz

Wenn europäische Unternehmen z. B. Gasarmaturen, Kabelbäume oder Sicherheitsventile in die USA liefern, können sie die dortigen Vorgaben nur erfüllen, wenn sie Sonderbauteile mit identischen Funktionen konstruieren. Das ist teuer, erhöht die Preise im Exportmarkt und vermindert die Wettbewerbsfähigkeit der Europäer. „Regulatorische Konvergenz“ – also die Angleichung der Normen, Vorschriften und Regelungen – ist deshalb ein berechtigtes Anliegen der Industrie.

Dann gibt es noch die so genannten nicht-tarifären Handelshemmnisse wie unterschiedliche  Standards und Zulassungsverfahren, Urheberrechte und Kennzeichnungspflichten. Ihre Abschaffung bewirkt einen Kostenvorteil für die produzierende Industrie. Europäischen Unternehmen können dann leichter auf den Märkten in Nordamerika Fuß zu fassen und dort auch an öffentliche Aufträge kommen. Amerikanische Investoren werden vor diskriminierenden Regelungen in Europa geschützt, freuen sich, dass der Rückstau bei der Zulassung genmanipulierter Produkte in Europa endlich aufgelöst wird und die Supermarkttheken beiderseits des Atlantiks gleich aussehen.

In Europa gilt das Vorsorgeprinzip: Ein Produkt darf nur verkauft werden, wenn nachgewiesen ist, dass es sicher ist. Aus dieser Philosophie heraus haben sich vor 150 bzw. 100 Jahren Vereine zur Technischen Überwachung gebildet: in Deutschland TÜV und DEKRA. In den USA gilt das Nachsorgeprinzip: Weil der vorherige Nachweis teuer ist, prüfen Unternehmen weniger sorgfältig, was sie auf den Markt bringen. Wenn ein Schaden eingetreten ist, werden sie oft auf gigantische Schadensersatzsummen verklagt. Das Nachsorgeprinzip ist aber für die Unternehmen rentabel.

Die Befürworter der Abkommen sprechen von Kostensenkungs- und Beschäftigungseffekten. 2013 hat das Londoner „Centre for Economic Policy Research (CEPR)“ im Auftrag des damaligen EU-Kommissars Karel De Gucht ein Wachstumspotenzial von 120 Milliarden Euro für die Abkommen errechnet. Für jeden Haushalt wären das 545 Euro im Jahr.

Vorbild für CETA war ein Abkommen, das 1994 in Kraft trat: Das North American Free Trade Agreement (NAFTA). Kanada, die USA und Mexiko sind seither in einer Art Schicksalsgemeinschaft verbunden. Die Versprechungen des Abkommens waren rosig. Der damalige US-Präsident Bill Clinton hat 200.000 zusätzliche Jobs angekündigt. Inzwischen ist auf allen Seiten Ernüchterung eingekehrt:

Eine Untersuchung der Weltbank hat für die USA den Verlust von einer Million Jobs darauf zurückgeführt, dass Billigjobs ins noch billigere Mexiko abgewandert sind. Auf der anderen Seite erzeugen die gigantischen US-Agrarfabriken Nahrungsmittel zu einem Bruchteil der Kosten bei mexikanischen Bauern. Das hat die Landwirtschaft in Mexiko ruiniert. NAFTA hat der Landbevölkerung die Lebensgrundlage geraubt. Sie versucht nun, sich in die USA abzusetzen. Die aber haben gegen diese Versuche entlang der Grenze einen elektrischen Zaun errichtet. Der Präsidentschaftsbewerber Donald Trump möchte den Zaun durch eine Mauer ersetzen. Waren können die Grenzen frei passieren; die Opfer – Menschen – werden eingemauert.

Regulatorische Konvergenz kann auf ganz anderem Wege angestrebt werden: Arbeitskreise von Fachingenieuren können die Fragen der Normung und internationalen Standardisierung weltweit wirksamer vereinbaren. Im Bauwesen haben 31 europäische Länder gezeigt, wie es geht: Mit dem Eurocode haben sie einen gemeinsamen Standard – ein System europäischer Normen – geschaffen.

Dieses Verfahren sollte ein Modell für alle anderen Konvergenzanliegen sein. Dabei ist es sicher sinnvoll, internationale Standards nicht nur für den Nordatlantik zu schaffen. Bei Lieferungen in die wohl größten Zukunftsmärkte – China und Indien – würde das Problem nur verschoben. Ziel sollten technische Standards für die ganze Welt sein. Das ist aber nur zu erreichen, wenn auch der Rest der Welt jetzt schon gefragt und mit einbezogen wird.

Erwünschtes Elend

Weltweite Regulatorische Konvergenz wäre ein Beitrag zur weltweiten Angleichung von Lebensbedingungen und auch Lebensstandards. Das ist aber nicht erwünscht. Ziel von CETA, TTP, TTIP und TISA ist auch, dass der Teil der Welt, der nicht zu den US-geführten Wirtschaftsblöcken gehört, sich nicht entwickelt, sondern arm, abhängig und ausgebeutet bleibt. Insbesondere das rohstoffreiche Afrika wird gezielt arm gehalten. Diese Schlussfolgerung hört sich radikal an. An zwei Beispielen (es gäbe mehr) will ich sie belegen:

Kofi Annan, ein ghanaischer Diplomat, war von 1997 bis 2006 Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er sorgte sich um die brutalen Bürgerkriege im rohstoffreichen Osten Kongos mit bisher schätzungsweise 7 Millionen Todesopfern. Die Menschen verhungern, aber Rebellen wie die M23, die Mai-Mai-Gruppen, die FRPI (Forces de Résistance Patriotique d’Ituri), die LRA (Lord’s Resistance Army), die ADF (Allied Democratic Forces), die Forces Démocratiques de Libération du Rwanda (FDLR), die CNDP-Milizen  und andere bekommen alle Waffen, die sie brauchen.

2003 beauftragte Annan eine Expertengruppe unter Leitung des ägyptischen Diplomaten Mahmoud Kassem damit, die Quellen der Waffenlieferungen auch vor Ort zu untersuchen. Deren Schlussbericht ist erschütternd: 17 Weltkonzerne finanzieren „ihre“ Rebellengruppe, um Kupfer, Gold, Uran, Coltan (der Stoff aus dem die Handys sind) und vieles mehr abzubauen – illegal und ohne Lizenzgebühr zu zahlen. So bleibt der Zentralstaat der Demokratischen Republik Kongo zu arm, um die Rohstoffreichtümer im Osten des riesigen Landes kontrollieren und ausbeuten zu können.

„Einflussreiche Kreise“ am Sitz der Vereinten Nationen in News York haben erwirkt, dass der Bericht der Kassem-Experten nur umfangreich geschwärzt veröffentlicht worden ist, so dass die Namen der verbrecherischen Weltkonzerne nicht bekannt geworden sind.

Muammar al-Gaddafi, der in einem Zelt lebende frühere Präsident Libyens, verteilte die reichen Öleinkünfte des Landes an sein Volk: Die gesamte medizinische Versorgung durch Ärzte und Krankenhäuser, Ausbildung und Betreuung vom Kindergarten bis zur Hochschule waren kostenlos; jedes Hochzeitspaar erhielt als Geschenk den Gegenwert von € 41.000 – den Preis eines Familienwohnhauses – und es gab keine Steuern.

Gaddafi investierte in Infrastruktur: Russische Ingenieure erschlossen das größte Süßwasserreservoir der Erde im Südosten des Landes (ein unterirdischer See von der Größe Deutschlands) und verlegten 4.000 km Betonröhren mit einem Durchmesser von etwa vier Metern. Die Leitungen nach Norden waren fast fertig und hätten ganz Nordafrika versorgen und in einen Garten Eden verwandeln können. Das alles ohne einen Cent Kredit von den internationalen Finanzmärkten.

Schließlich plante er noch eine mit Gold gedeckte gesamtafrikanische Währung: Sein Gold-Dinar sollte zuerst den CFA-Franc ersetzen – die Währung des frankophonen Afrika. Das war dem Westen zu viel und so wurden Aufstände inszeniert. Die Bilder, die uns das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland von den angeblichen libyschen Aufständen gezeigt hat, waren gar nicht aus Libyen, sondern aus Bahrain. Die dortigen Aufständischen sind aus saudischen Leopard-Panzern niedergeschossen worden. Deutschland hatte diese Waffen geliefert.

Die NATO-Bomben zerstörten dann als erstes die Süßwasserleitungen in Libyen. Später wurde al-Gaddafi ermordet. Libyen steht jetzt kurz vor der Übernahme durch die Terrorbanden des so genannten Islamischen Staates.  Gaddafi hat – wohl in böser Vorahnung – prophezeit, dass nach ihm Millionen von Flüchtlingen aus ganz Afrika Europa überrennen werden. Gegen 6 Millionen Euro, die Italien ihm jährlich gezahlt hat, hatte er sie noch in Libyen festgehalten und als Gastarbeiter beschäftigt.

Räuberische Erpressung

Die neuen Abkommen ermöglichen Dinge, die es in der Geschichte der Menschheit so bisher noch nicht gegeben hat: Die Verträge sehen als Investitionsschutz Entschädigungen bei Enteignungen vor. Das klingt harmlos. Niemand kann sich Enteignungen durch europäische Länder, Kanada oder die USA vorstellen. Hier geht es aber um indirekte Beeinträchtigungen, z. B. durch Gesetzesänderungen oder Regulierungen, die den Gewinn mindern, den eine Investition abwerfen könnte.

„Eigentum“ wird also ganz neu definiert. Bei der Beeinträchtigung der Gewinnerwartungen von Unternehmen sieht der Vertrag ein Sonderklagerecht für Unternehmen gegen Staaten vor. Unternehmen werden damit zum Völkerrechtssubjekt erhoben. Völkerrechtliche Verträge haben mehr Gewicht als die Verfassungen von Staaten oder die Charta der Grund- und Menschenrechte. Ein Klagerecht von Staaten gegen Unternehmen ist dagegen ausgeschlossen.

Im Jahre 2015 zählte die Welthandelsorganisation 406 bilaterale Handelsabkommen, vor allem zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern, in denen der Investitionsschutz geregelt ist. Das erste dieser Abkommen hat Westdeutschland im Jahre 1959 mit Pakistan geschlossen. Ohne einen solchen Schutz wäre kein westdeutsches Unternehmen die politischen Risiken einer Investition in Pakistan eingegangen. Im Falle einer Enteignung wäre ein Prozess vor einem pakistanischen Gericht wahrscheinlich aussichtslos gewesen. Deshalb erschien ein „neutrales“ Gericht in Washington D. C., denen die Unternehmen vertrauten, als eine gute Lösung. Der Investitionsschutz, wie CETA und TTIP ihn vorsehen, ist also sogar eine deutsche Erfindung.

Aus diesem einmal gut gemeinten Investitionsschutz haben sich inzwischen für die „Gierrilla“ Möglichkeiten ergeben, auch große Staaten regelrecht auszunehmen:

Im Herbst 2001 war Argentinien pleite, seine Staatsanleihen waren Ramschpapiere. Der auf den Cayman-Inseln (einer Steueroase) beheimatete Investmentfonds NML hat solche Anleihen zum Schleuderpreis von 48 Millionen Dollar gekauft. Jetzt hat Paul Singer, der Leiter dieses Fonds, von Argentinien den Nominalwert zurückverlangt und in Washington darum prozessiert. Um seiner   Forderung Nachdruck zu verleihen, hat er in Ghanas Hafen Tema ein Segelschulschiff der argentinischen Marine pfänden lassen (das war möglich, weil seit der Kolonialzeit gilt in Ghana britisches Recht gilt). Die neue argentinische Regierung unter Mauricio Macri hat mit Paul Singer einen Vergleich geschlossen und zahlt ihm 4,65 Milliarden Dollar. Ein einziger Milliardär hat die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas mit 25 Millionen Einwohnern in die Knie gezwungen und seinen Einsatz fast verhundertfacht.

Im Jahre 2013 hat ein Investor 5 Millionen Dollar in ein Hotelprojekt in Libyen gesteckt. Im Jahre 2014 ist ihm für entgangenen Gewinn und Reputationsschaden ein Schadensersatz in Höhe von 935 Millionen Dollar plus Zinsen zugesprochen worden – das ca. 190fache der investierten Summe.

Mit CIA-Unterstützung hat der ehemalige russische Präsident Boris Jelzin den Ausverkauf von Russlands Reichtümern betrieben. Der im Zuge der Privatisierung erfolgreichste kommunistische Jugendführer war Michail Chodorkowski. Er eignete sich den Yukos-Ölkonzern an. Putin ließ ihn enteignen. Weil Chodorkowski mit Unterstützung der CIA einen Umsturz plante, verbannte Putin ihn nach Sibirien. Nach deutscher Vermittlung ist er unter der Bedingung freigelassen worden, Russland wegen der Enteignung nicht zu verklagen. Chodorkowski ist in die Schweiz geflüchtet. Seine Ansprüche an den zerschlagenen Yukos-Konzern hat er an seinen in Israel lebenden Freund Leonid Newslin abgetreten. Newslin hat Russland für seine in der Steueroase Gibraltar ansässige Finanzholding GML auf Schadensersatz verklagt. Das bereits rechtskräftige Urteil: Russland muss 50 Milliarden Dollar Schadensersatz an Herrn Newslin zahlen. Das Urteil ist weltweit vollstreckbar. Russland musste Herrn Newslin deshalb zum 50.000fachen Millionär machen.

Das Umweltgrab

Einige Beispiele zeigen, was der Investitionsschutz in bilateralen Handelsverträgen schon angerichtet hat, bevor CETA und TTIP überhaupt wirksam sind:

Die kanadische Firma Lone Pine wollte in der kanadischen Provinz Quebec Fracking durchführen. Eine Prüfung der Umweltverträglichkeit hat erhebliche Gefahren offenbart. Die Bevölkerung hat sich in einem Volksbegehren mit großer Mehrheit gegen das Fracking gewehrt. Lone Pine hat daraufhin seinen Sitz in die USA verlegt. Das hat es ermöglicht, den Volkswillen durch ein Schiedsgericht in Washington D. C. auszuhebeln. Der Prozess wurde gewonnen, in Quebec wird jetzt „gefrackt“.

Die Bevölkerung von Ecuador hatte sich heftig gegen die Verschmutzung der Urwaldregion durch Ölbohrungen des US-Ölkonzerns Occidental gewehrt. Die Regierung wollte die Urwaldrodung verbieten. Occidental hat das Land in Washington D. C. verklagt. Ecuador ist verurteilt worden, zwei Milliarden Dollar Schadensersatz zu zahlen. Weil dieses arme Land das nicht zahlen kann (mehr als es für Schulen und Universitäten ausgibt), muss es die Zerstörung des Regenwalds zulassen.  

Peru drohen erhebliche Strafzahlungen wegen der Nichtverlängerung von Minenschürfrechten aus Umweltschutzgründen.

Im Jahre 2000 hat die rot-grüne Bundesregierung den Atomausstieg in Deutschland mit den vier Betreibern von Kernkraftwerken vertraglich vereinbart („Atomkonsens“). Im Herbst 2010 hat die schwarz-gelbe Bundesregierung diesen rechtssicheren Konsens aufgekündigt (Ausstieg vom Ausstieg). Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima im März 2011 und dem Wahlergebnis in Baden-Württemberg mit dem ersten grünen Ministerpräsidenten hat die Bundesregierung hektisch eine erneute Kehrtwende vollzogen. Die deutschen Energiekonzerne RWE und EON gehen vor deutschen Gerichten dagegen vor.

Der Zick-Zack-Kurs der schwarz-gelben Bundesregierung hat es dem schwedischen Konzern Vattenfall ermöglicht, Deutschland vor einem Geheimtribunal in den USA auf 4,7 Milliarden Euro Schadensersatz zu verklagen – mehr als die Hälfte der jährlichen deutschen Entwicklungshilfe. Die Bundesregierung hat die New Yorker Kanzlei McDermatt Will Emery mit ihrer Vertretung beauftragt. Für Verfahrens- und Anwaltskosten sind bis März 2015 – also noch vor Prozessbeginn –  bereits 4,1 Millionen Euro angefallen.

Die kanadische Gemeinde Fundy liegt in einer idyllischen Bucht. Hier wollte die US-Firma Bilcon einen Steinbruch anlegen. Die Gemeinde hat den Steinbruch nicht genehmigt, weil er Wale und Lachse vertreiben würden, von der die Fischfänger leben und auch die Küstenlinie zerstören würde. Die US-Firma hat nicht die arme Gemeinde verklagt, sondern Kanada – auf 300 Millionen US-Dollar Schadensersatz wegen der geplatzten Gewinnerwartungen. Kanada hat die Summe gezahlt.

Kanada hat auch einen Krebs fördernden Benzinzusatz verboten. Die US-Chemiefirma  Ethyl Corporation hat Kanada daraufhin verklagt und den Prozess in Washington D. C. gewonnen. Das Land muss den schädlichen Zusatz im Benzin wieder zulassen.  

Die Keystone-Pipeline sollte Rohöl aus den Erdölfeldern der Athabasca-Ölsand-Vorkommen aus der westkanadischen Provinz Alberta zu den Erdölraffinerien in den US-Bundesstaaten Illinois, Oklahoma und Nebraska transportieren. US-Präsident Barack Obama hat diese Pipeline aus Umweltschutzgründen untersagt. Der kanadische Energiekonzern Trans-Canada hat die USA deshalb auf 15 Milliarden Dollar Schadensersatz verklagt. Der Prozess wird gerade vorbereitet.

Die Gierrilla am Werk

Die Finanzmärkte haben damit gedroht, Spanien wegen Überschuldung der öffentlichen Haushalte in seiner Kreditwürdigkeit herabzustufen. Das würde die Zinsen für aufgenommene Kredite erhöhen. Um die Überschuldung zurückzufahren hat das Land massiv Subventionen gekürzt, die bisher für Bauprojekte gezahlt worden sind. Daraufhin haben zwei Dutzend Investmentfonds Spanien auf viele Milliarden Euro Schadensersatz verklagt. Der Prozess wird gerade vorbereitet. Es ist so als ob ein Mensch dafür bestraft wird, dass er auf der Welt ist – was immer er tut, er ist schuldig.

Die Paribas Bank in Frankreich hat Geschäfte mit dem Iran getätigt, die in Frankreich und der EU erlaubt waren, nicht aber in den USA. Die USA waren hierin nicht verwickelt und hatten damit auch nichts zu tun. Trotzdem ist die französische Bank nach US-Recht zur Zahlung von 8,9 Milliarden Dollar verurteilt worden. Sie hat diese Summe zähneknirschend gezahlt, weil sonst ihr US-Geschäft gepfändet worden wäre. Frankreich hat diese brutale Beschneidung seiner Souveränität geschluckt.

Ägypten hat den gesetzlichen Mindestlohn von monatlich 41 Euro (wovon auch dort niemand leben kann) auf 72 Euro erhöht. Die Müllentsorgungsfirma Veolia hat dagegen geklagt. Das Land ist in Washington D. C. verurteilt worden, entweder das Gesetz zurückzunehmen oder dem Unternehmen auf Dauer die Differenz zwischen 72 und 41 Euro monatlich pro Mitarbeiter zu erstatten. Regierungen und Parlamente dürfen nur noch tätig werden, wenn Konzerne es ihnen erlauben.

Die Getränkeabfüller Joan und Viorel Micula haben Rumänien auf 250 Millionen Dollar Schadensersatz verurteilen lassen, weil der Gewinn der Firma aufgrund einer Maßnahme der zuständigen Verwaltungsbehörde geringer ausgefallen ist, als geplant. Rumänien hat diese Summe zahlen müssen. Die Behörden des Landes unterstehen Konzernen, nicht der eigenen Regierung.

Vodafon hat Indien wegen seiner Steuergesetze verklagt. Selbst seine Steuern sollte sich das Land mit mehr als einer Milliarde Einwohnern von den Konzernen genehmigen lassen.

In Bolivien sind Aufstände blutig verlaufen, nachdem die US-Firma Bechtel den Wasserpreis um 50 % erhöht hat. Die meisten Menschen können sich kein Wasser mehr leisten. Aufgrund von Vorschriften inneramerikanischer Handelsabkommen musste die Wasserversorgung zuvor privatisiert werden.

Der chinesische Lebensversicherer Ping An hat Belgien auf 1,8 Milliarden Euro Schadensersatz verklagt. Während der Finanzkrise 2008 hat die belgische Regierung eine Bank durch Verstaatlichung vor dem Untergang gerettet. Ping An, Miteigentümer der Bank, fordert jetzt seinen Einsatz zurück.

Die Regierung von Neuseeland hat ausländischen Radiosendern Lizenzen erteilt. Nun gibt es dort keine Lokalnachrichten mehr, was die Bevölkerung erzürnt. Der Markt ist von US-Sendern übernommen worden, die neben Werbung nur noch amerikanische Serien ausstrahlen.

Phillip Morris sieht durch die Ablehnung des Rauchens seine Geschäftsinteressen gefährdet. Der Konzern hat mit Uruguay zunächst ein kleines Land ausgewählt. Der Jahresumsatz von Phillip Morris ist doppelt so hoch wie das Bruttoinlandsprodukt von Uruguay. Uruguay hatte aber vorsorglich keinen Investitionsschutz mit den USA vereinbart; allerdings mit der Schweiz, von der nichts Böses zu erwarten war. Phillip Morris hat das Land daraufhin von seiner Niederlassung in der Schweiz aus in Washington D. C. verklagt. Der geltend gemachte Schadensersatz ist ca. vier Milliarden Dollar. Uruguay ist nicht in der Lage, die US-Anwälte für seine Verteidigung für diese hohe Schadenssumme zu bezahlen und hat dafür vom Nichtraucher Bill Gates eine Spende bekommen. Sollte Phillip Morris den Prozess gewinnen, muss Uruguay seine Gesetze zurücknehmen, weil es den Schadensersatz nicht aufbringen kann. Dann werden auch andere kleine Länder sich nicht trauen, Gesetze gegen das Rauchen zu verabschieden. Das Prozessrisiko ist einfach zu hoch.

Konzerne als Völkerrechtssubjekte

Subjekte des Völkerrechts sind bisher Staaten. Das Völkerrecht gilt als supranational. Eine nationale Gesetzgebung kann das Völkerrecht nicht aushebeln; sie ist ihm unterworfen. Auch bei der „Zwischenstufe“ – dem Europarecht – ist es so: Europarecht bricht das Recht eines einzelnen europäischen Staates, so wie innerhalb Deutschlands auch Bundesrecht Landesrecht bricht.

CETA und TTIP erheben nun Konzerne zu Subjekten des Völkerrechts. Konzerne können Staaten verklagen – nicht etwa wegen Enteignung, was nachvollziehbar wäre, sondern wegen geplatzter Gewinnerwartungen. Erwartungen großer Unternehmen werden somit unmittelbar zu Vermögenswerten, selbst wenn sie gar nicht realisiert werden. Ein Gegengewicht gibt es nicht: Die Abkommen geben Staaten keine Möglichkeit, Konzerne zu verklagen, wenn diese ihre Zusagen nicht einhalten. Das ist nur nach nationalem Recht möglich; aber da gelten andere Maßstäbe.

Wie konnten solche Vorgaben in die Vertragstexte hineinkommen? Wir müssen verstehen, wer die Regeln schreibt, um zu verstehen, für wen sie gemacht sind. Auf EU-Seite verhandeln Beamte der Brüsseler Kommission. In der Kommission und im Europaparlament arbeiten ca. 33.000 Personen. Das erscheint viel, aber es sind nicht mehr als z. B. in der Stadtverwaltung von München. Daneben sind in Brüssel ca. 15.000 Lobbyisten tätig, die den Verhandlungsführern fachkundig zur Seite stehen und sie beraten. Auf jeden der 732 Abgeordneten des Europaparlaments kommen ca. 20 hochkompetente Interessenvertreter der Finanzbranche, großer Konzerne oder einschlägiger Verbände, deren Wunschliste sich in den CETA- und TTIP-Texten spiegelt.
CETA ist ausverhandelt. Beim TTIP sind die Verhandlungsführer auf US-Seite Michael Froman und Stefan Selig. Michael Froman kommt von der Citygroup und bekam von ihr 6,25 Millionen Dollar als Abschiedsgeschenk. Das war wohl mit der Erwartung verbunden, dass er in der neuen Aufgabe noch mehr für seine Bank tun kann. Stefan Selig kommt von der Bank of America. Die Bank hat ihm die Verhandlungsführung neben seinem regulären Gehalt von 5,1 Millionen Dollar mit 9 Millionen Dollar vergoldet. Diese Zahlungen offenbaren, wessen Interessen die Verhandlungsführer vertreten.
Die Verhandlungsführer wollen einheitliche Regelungen auf beiden Seiten des Atlantiks durchsetzen. Ein Beispiel: In Europa müssen gentechnisch veränderte Lebensmittel als solche gekennzeichnet werden. Wenn Monsanto das als Handelshemmnis definiert und Milliarden Schadensersatz einklagt, wird die Information auf der Verpackung ein teurer Spaß. Die Information zur Gentechnik kann dann z. B. im Magnetstreifen versteckt werden. Die Verbraucher müssten dann jedes Produkt mit einem Lesegerät scannen ehe sie es in den Einkaufskorb legen oder sich über die Presse informieren.
Bei CETA und TTIP sind die strahlenden Sieger auf allen Seiten Anwälte, die auf solche Verfahren spezialisiert sind. Sie erhalten am Streitwert orientierte Honorare. Insider berichten, dass es 15 angelsächsische Kanzleien mit Niederlassungen in den Metropolen der Welt sind, die diesen Kuchen untereinander aufteilen. Deren Honorarumsatz soll jährlich zwischen einer und zwei Milliarden Dollar liegen. Die Abkommen bahnen deshalb den Weg zu einer Machtergreifung durch Kanzleien, die milliardenschweren Fonds verpflichtet sind. Hinzu kommt, dass sie die englische Juristensprache als Herrschaftsinstrument nutzen können. CETA und TTIP erheben die Finanzoligarchen der City of London und der Wall Street zu den wahren Königen der Welt.

Da nur Konzerne klagen können, haben selbst die Anwälte, die einen beklagten Staat vertreten, ein Interesse daran, dass die Konzerne gewinnen. Das inspiriert Konzerne zu weiteren Klagen, löst mehr Prozesse aus und erhöht den Geldregen über der Anwaltszunft. Erstaunlich dabei ist ein Phänomen: Die USA sind das einzige Land, das bisher noch nie einen Prozess verloren hat. Was da im verborgenen Hintergrund gespielt wird, ist mir nicht bekannt.

Die Kungelrunde

NAFTA – das nordamerikanische Abkommen – hat ein Novum eingeführt, das in CETA übernommen worden ist und so auch beim TTIP Eingang findet: Die Regelungen zum Freihandel werden im Vertag gar nicht im Einzelnen festgelegt; damit wird ein Gremium mit einem schönen Namen beauftragt: das „Regulatorische Kooperationsforum“. Der Vertrag selbst definiert nur die Spielräume. Das „Forum“ unterliegt keiner parlamentarischen Kontrolle und wird sehr wahrscheinlich von einschlägigen Lobbyisten dominiert.  

Im Vertrag jetzt noch nicht ausgehandelte Bereiche soll das Forum später angleichen und Regulierungen verbindlich festlegen. Eine Negativliste führt auf, was nicht liberalisiert werden soll. Alles was nicht auf dieser Liste steht, ist das Feld für Privatisierungen, die – wenn sie nicht freiwillig erfolgen – auf dem Klageweg erzwungen werden können. Das gefährlichste an der Negativliste ist, dass sie zukünftige Entscheidungen verbaut. Wer hätte vor einigen Jahrzehnten das Internet und Emails vorausgesehen? Wer kann heute wissen, welche neuen Entwicklungen uns in einigen Jahrzehnten blühen? Was immer aber kommen mag – wenn es nicht auf der Negativliste steht, hat der Staat kein Recht mehr, es zu regeln.

Damit ist Parlamenten die Entscheidungsfreiheit genommen. Immer prüft das Forum vorab. Was nicht dem Geist von CETA oder TTIP entspricht, darf nicht weiterverfolgt werden. Wer es dennoch tut, begeht Vertragsbruch und kann auf Schadensersatz verklagt werden. Selbst wenn TTIP nicht kommen sollte, CETA aber von den Europäern ratifiziert wird, können US-Konzerne über ihre kanadischen Niederlassungen Europa refeudalisieren.

Ein wichtiger Passus, über den das Regulatorische Kooperationsforum zu wachen hat, ist die so genannte „Ratched Clause“ (Sperrklinkenklausel): Eine einmal vorgenommene Privatisierung darf nicht mehr rückgängig gemacht werden. Demokratien sind in ihrer Freiheit beschränkt, eine Entscheidung zu revidieren, wenn sie sich als falsch erwiesen hat und ihre Auswirkungen von der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert werden.

Hamburg hatte das Stromnetz privatisiert. In 2010 startete die Volksinitiative „Unser Hamburg – unser Netz“ mit einer Kampagne für den vollständigen Rückerwerb der Energienetze. In einer Abstimmung am 22. September 2013 (gemeinsam mit der Bundestagswahl) erhielt die Vorlage zur Re-Kommunalisierung eine knappe Mehrheit. Nach CETA/TTIP-Regelungen wäre das Vertragsbruch und nicht mehr zulässig.

Berlin und Paris hatten ihre Wasserwerke an die Firma Veolia verkauft, um mit dem Erlös Löcher im Haushalt zu stopfen. Nachdem die Bevölkerung die Folgen gespürt hat, ist sie dagegen auf die Barrikaden gegangen, in Berlin mit einem Volksentscheid. In 2013 hat das Berliner Abgeordnetenhauses den Rückkauf durch die Berliner Wasserbetriebe vollzogen und der zuständige Senator konnte erklären: „Das Wasser gehört wieder den Berlinern.“ Nach der Sperrklinkenklausel bei CETA und TTIP wäre der Rückkauf Vertragsbruch und verboten. Keine demokratische Legitimation könnte an diesem „Völkerrecht“ dann noch etwas ändern.

Die Verträge können uns zwingen, Renten-, Sozial- und Krankenversicherungssysteme, die Verkehrsinfrastruktur, Schulen und Hochschulen, die Versorgung mit Wasser und Elektrizität, die Entsorgung von Müll und Abwasser zu privatisieren. Schulkantinen können z. B. von Coca-Cola oder McDonald’s betrieben werden. Sparkassen und Genossenschaftsbanken können gezwungen werden, Aktiengesellschaften zu werden und sich einer Übernahme durch den Finanzsektor zu öffnen. Eine Rückabwicklung ist nicht mehr zulässig. Wenn US-Konzerne gegen Arbeitnehmerrechte oder Betriebsräte, Mindestlöhne oder Flächentarifverträge, Steuergesetz oder Wettbewerbsregeln klagen, weil sie dadurch ihren Gewinn geschmälert sehen, entscheidet ein Gericht in Washington, D. C.

Ein Wirtschaftskrieg

Am 25. September 2001 hat der russische Präsident Wladimir Putin vor dem Deutschen Bundestag die Einheit eines friedlichen Europa beschworen und an Michail Gorbatchows Vision eines Wirtschaftsraums von Atlantik bis zum Ural oder von Lissabon bis Wladiwostok angeknüpft. Die Rede hat in Washington und London die Alarmglocken schrillen lassen.

George Friedman, Chef der Strategic Forecasting Inc. (STRATFOR) und einflussreicher Mitgestalter der US-Außenpolitik erklärte in einer Pressekonferenz die angelsächsische Geopolitik seit 150 Jahren: Oberstes Ziel der britischen Außenpolitik sei es gewesen, Feindschaft zwischen Deutschland und Russland zu säen. Zwei Mal habe das geklappt und zu einem Weltkrieg geführt, der beide Länder geschwächt habe. Um die globale Dominanz der USA zu sichern, habe die US-Außenpolitik dieses Ziel jetzt übernommen. Friedman wörtlich: „Wir wollen die Russen nicht töten, sie nur verletzten, ihnen Schaden zufügen und die Russische Föderation zerschlagen. Es ist wieder das alte Spiel.“
Jetzt wird ein Keil zwischen Deutschland und Russland getrieben, indem Deutschland zum US-Komplizen gemacht und Russland verteufelt wird. Kriege werden mit Lügen gerechtfertigt: Beim Vietnamkrieg war es die Falschmeldung, das US-Schiff Maddox sei im Gold von Tonkin von Vietnam beschossen worden. Beim Irakkrieg waren es die Massenvernichtungswaffen des Russlandfreunds Saddam Hussein. Die Ukrainekrise sollte durch die Lüge eskalieren, Russland habe das Flugzeug der Malaysia Airlines MH 17 abgeschossen. Danach hat Europa sich den US-Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Malaysia, der wirtschaftlich erfolgreichste islamische Staat, verzweifelte. Sein oberster Gerichtshof bereitet die Anklage von George W. Bush und Tony Blair als Kriegsverbrecher in Den Haag vor. Deutschland und Russland bringen die wirtschaftlichen Opfer der Sanktionen.
Russland aber hat etwas ganz anderes getan: Am 15. Juli 2014 hat Präsident Putin im brasilianischen Fortaleza bekannt gegeben, wie er die Dominanz der Weltleitwährung Dollar brechen will. 30 % des US-Bruttoinlandsprodukt (BIP) sind Geschäfte mit der eigenen Währung. Das US-Außenhandelsdefizit ist 40 Prozent des BIP. Wenn Russland dieses Ziel erreicht, bricht das Bruttoinlandsprodukts der USA um 1/3 ein. Das Land kann dann nicht mehr gegen mit $-Zeichen grün bedrucktes Papier auf der ganzen Welt einkaufen. Es ist der Untergang einer Weltmacht.

NATO-Generalsekretär Anders Rasmussen (2009 bis 2014) hat deshalb angeregt, Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Dann läge der russische Flottenstützpunkt in Sewastopol auf der Krim in der NATO. Das entspräche der Vorgabe des Barons Hastings Lionel Ismay, des ersten Generalsekretärs der NATO von 1952 bis 1957: „Die Aufgabe der NATO ist es, die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten“. Noch im Juli 2014 haben die NATO und ukrainische Streitkräfte zehn Tage lang gemeinsame Übungen zur elektronischen Kriegsführung und Aufklärung durchgeführt; Codenamen: SEA BREEZE.

Zbigniew Brzeziński – neben Henry Kissinger einflussreichste graue Eminenz der USA – hat in seinem Buch Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft dargelegt, dass die Ukraine geopolitischer Dreh- und Angelpunkt Eurasiens ist. Solange Russland hier Einfluss hat, über die Krim den Zugang zum Schwarzen Meer behält und seine reichen Bodenschätze nicht privatisiert, bestehe die Gefahr, dass eine eurasische Großmacht heranwachse.

US-Präsident Barack Obama hat aber am 4. Juni 2014  in der Militärakademie West Point erklärt, warum Russland jetzt auch ohne Krieg besiegt werden kann: Der Job der privaten Söldnerarmeen wird durch „Umsturz-Hedge-Fonds“ übernommen, die auf Renditebasis arbeiten. Und am 24. September 2014 hat Obama vor der UNO-Vollversammlung die drei größten Übel der Menschheit benannt: Erstens der „Islamischen Staat“, zweitens die Seuche Ebola und drittens Russland.

Die Guerilla

Die USA wollen die Industriestaaten beiderseits des Atlantiks und Pazifiks in einem Wirtschaftsblock zusammenhalten. Dieser Block soll nach US-Regeln funktionieren und seine Interessen gegenüber dem Rest der Welt durchsetzen. Auf der Hannover Messe am 23. April 2016 will Präsident Obama die deutsche Regierung auf TTIP einschwören. Unsere Gesellschaft, unsere Kultur, unser Leben soll gewinnorientierten privaten Interessen ausgeliefert werden: 1970 verdiente ein Unternehmenschef in den USA das 25fache des Durchschnittseinkommens seiner Mitarbeiter, heute ist es das 500fache. Der Hedgefondsmanager David Tepper, höchst bezahlter Manager der Welt, bezog in 2014 ein Jahressalär von 3,5 Milliarden Dollar – ca. zehn Millionen an jedem einzelnen Kalendertag.

Spannend ist es zu sehen, wer bei den Freihandelsabkommen nicht dabei ist: Russland, China, Indien, Pakistan, Iran, der gesamte Afrikanische Kontinent, Brasilien, Argentinien – Länder in denen insgesamt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt. Mit Ausnahme von Russland bezeichnen wir sie als „Schwellenländer“ und „Entwicklungsländer“. In der Welthandelsorganisation WTO verfügen sie inzwischen über die Mehrheit und könnten dort faire Handelsbeziehungen durchsetzen.

Chaos und köchelnde Konflikte fern der eigenen Grenzen – in Asien, im Nahen Osten und jetzt auch in Europa – festigen den Weltmachtstatus der USA. Aus dieser Sicht wäre es ideal, die Europäer in einen Krieg im Osten Europas zu verwickeln. Damit wäre Europa als potenzieller Herausforderer der amerikanischen Weltmachtposition matt gesetzt und würde sich wie in den beiden Weltkriegen intern selbst zerfleischen. Der Sieger wäre wieder auf der anderen Seite des Atlantiks.

Als Reaktion haben sich die bevölkerungsreichsten ausgeschlossenen Staaten zum „Gegenverbund“ BRICS zusammengeschlossen: Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika. Gemeinsam wollen sie sich gegen die Unterdrückung durch den Westen wehren. Die Hälfte der Menschheit lässt sich nicht in die Steinzeit zurückbomben, wie die ungehorsamen Länder Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen oder Jemen. Um den neuen Block herum haben zwölf Staaten eine militärische Organisation gebildet: die Shanghai Cooperation Organization (SCO), chinesisch 上海合作組織 / 上海合作组织 mit Sitz in Peking. Russland hat bereits die modernsten Lenkwaffen an den einstigen Rivalen China verkauft.

Trotz der Sanktionen wächst Russlands Wirtschaft seit Jahren, während die Wirtschaft der Eurozone seit Jahren schrumpft. Das russische Prokopfeinkommen liegt mit 15.000 Dollar über dem von Polen, Ungarn oder der Türkei. Russland erzielt einen ständigen Leistungsbilanzüberschuss wie Deutschland. Nach den Statistiken des Internationalen Währungsfonds beträgt die Verschuldung Russlands 13 %, die Deutschlands 75 % und die der USA 106 % seines Bruttoinlandsprodukts. Eine solche Unabhängigkeit des rohstoffreichsten Landes der Erde ist vielen ein Dorn im Auge.

In der UNO stimmen 2/3 der Weltbevölkerung regelmäßig gegen den „Westen“ – Staaten mit 60 % des Welt-Bruttoinlandsprodukts und Bewohnern von 3/4 des Festlandsockels. Viele erwarten, dass China und Indien in einer Generation die stärksten Wirtschaftsmächte der Welt sind. Von dort kommen dann Normen und Standards, Zulassungsverfahren und Kennzeichnungspflichten, Urheberrechte und Regeln, nach denen sich die anderen richten müssen.

Um diese Probleme der produzierenden Industrie zu lösen brauchen wir keine CETA, TPP, TTIP und TISA. Die Lobbyisten des Finanzsektors haben legitime und sinnvolle Wünsche der Realwirtschaft in Abkommen verpackt, mit dem sie die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges neu ordnen wollen. Hillary Clinton hat das, was diese Abkommen schaffen sollen, als „NATO der Wirtschaft“ bezeichnet.
Wenn wir einen nordatlantischen Sonderweg gehen und den Rest der Welt auszuschließen, wird das Problem nur verlagert. Die Unterwerfung unter die US-Strategie verschärft die Sklerose Europas. Die Orientierung zum eurasischen Kontinent mit einer Anbindung an den gerade entstehenden neuen BRICS-Machtblock wäre eine geopolitische Ausrichtung auf Zukunft.

Quellen (u. a.):

Greg Grandin, Kissingers langer Schatten – Amerikas umstrittenster Staatsmann und sein Erbe, München 2016
Jean-Frédéric Morin, Tereza Novotná, Frederic Ponjaert, Mario Teló (Hrsg.): The Politica of Transatlantic Trade Negotiations – TTIP in a Globalized World, 2015
Matthias Krumm, Die Institutionalisierung ungerechtfertigter Investorenprivilegien in TTIP und CETA, Laviathan 3/2015
Petra Pinzler, Der Unfreihandel – Die heimliche Herrschaft von Konzernen und Kanzleien, Hamburg 2015
Chang Ha-Joon, Bad Samaritans – The Myth of Free Trade and the Secret History of Capitalism, New York 2008
Wolfgang Berger, Anleitung zur Artgerechten Menschenhaltung – Wo Potenziale sich entfalten dürfen, macht Arbeit richtig Spaß, Bielefeld 2014
Jean Ziegler, Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher, München 2003
Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 2003
Peter-Tobias Stoll und Frank Schorkopf: WTO – Welthandelsordnung und Welthandelsrecht, Köln 2002

https://www.youtube.com/watch?v=oaL5wCY99l8
https://www.wto.org/english/res_e/booksp_e/world_trade_report14_e.pdf
http://www.epi.org/research/trade-and-globalization/
http://www.euractiv.de/sections/eu-aussenpolitik/foodwatch-vs-bdi-ttip-und-die-entmachtung-der parlamente-315451
http://www.zeit.de/2014/45/ttip-ceta.freihandelsabkommen-grundgesetz-rechtswidrig
https://www.ifw-kiel.de/medien/medieninformationen/2015/treaty-shopping-beim-investorenschutz
www.Quer-Denken.TV
http://www.afj.org/press-room/press-releases/more-than-100-legal-scholars-call-on-congree-administration-to-protect-democracy-and-sovereignty-in-u-s-trade-deals
http://works.bepress.com/cgi/viewcontent.cgi?article=1000&context=matthew_porterfield
http://corporateeurope.org/international-trade/2014/07/who-lobbies-most-ttip

Am 23/24. April 2016 wird einmal mehr in Hannover gegen die NATO der Wirtschaft demonstriert. Wir sind mit ihnen.

Ihr Wolfgang Berger, Apüril 2016

Prof. Dr. Dr. Wolfgang Berger, Ökonom und Philosoph, hat in Deutschland, Ghana, Frankreich, Indien, Italien, Argentinien, den USA und dem Iran studiert, geforscht, gelehrt und als Industriemanager gearbeitet, am längsten bei der Schering AG, dort zuletzt als Personalchef. Er hat mehrere Bücher und zahlreiche Fachartikel veröffentlicht. Er leitet das Business Reframing Institut in Karlsruhe, mit dem er „Flow“ in Unternehmen verankert (www.business-reframing.de) und ist wissenschaftlicher Beirat der Wissensmanufaktur. Weitere Veröffentlichungen von Wolfgang Berger: www.wissensmanufaktur.net/wolfgang-berger.

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Weitere Veröffentlichungen von und mit Wolfgang Berger:

www.wissensmanufaktur.net/wolfgang-berger